Farmen ums Überleben: Obdachlosigkeit als Feature, nicht als Bug

Es ist eine verstörende Beobachtung, eine, die man sich kaum zu formulieren traut, und doch drängt sich der Vergleich auf: Einem Obdachlosen zuzusehen, wie er systematisch Mülleimer nach Pfandflaschen durchsucht, erinnert an das Farmen von Ressourcen in einem MMORPG. Die Stadt wird zur Spielkarte, die Mülleimer zu Material-Spawn-Punkten und die Flaschen zum Loot, der für den täglichen Überlebenskampf notwendig ist. Das ist natürlich kein Spiel. Es ist die bittere Realität, die die menschliche Existenz auf einen Feedback loop aus Zufall und Verzweiflung reduziert. Aber der Vergleich offenbart eine dunkle Wahrheit über die Systeme, die wir geschaffen haben: Sie können das Überleben in einen aufgaben basierten Grind verwandeln.

Die Szene ist eine perfekte Anklageschrift gegen das System: Eine Person durchwühlt Müll nach Pfandflaschen, während nur wenige Meter entfernt eine 60.000-Euro-Uhr hinter poliertem Glas eines Luxusgeschäfts liegt. Das ist kein unglücklicher Zufall, es ist die logische, brutale Konsequenz einer Gesellschaft, die Wert in Kapital bemisst und Menschen als Kollateralschaden abschreibt. Die Frage ist nicht, ob alle Obdachlosen auf diese Weise leben wollen, sondern warum das System, das solch immensen Reichtum hervorbringt, gleichzeitig eine Gesellschaftsschicht benötigt, die im Elend existiert. Sie haben nicht einfach nur Pech, sie sind ein Produkt.

Dieser gesellschaftliche blinde Fleck erstreckt sich bis in jene Institutionen, die auf dem Prinzip des Mitgefühls gegründet wurden. Historisch gesehen bot die Kirche den Mittellosen ein Sicherheitsnetz, es war eine Kernfunktion, eine tragende Säule ihrer wahrgenommenen Mission. Heute scheint diese Säule zu bröckeln. Die Rechtfertigung für eine staatlich eingezogene Kirchensteuer wird fadenscheinig, wenn Obdachlose Berichten zufolge von genau den Kirchenbänken abgewiesen werden, die durch diese Steuer finanziert werden. Es ist ein stiller, aber tiefer Verrat: die Verwandlung der Nächstenliebe von einer Kernaufgabe in ein Relikt vergangener Zeiten, das die Schwächsten schutzlos zurücklässt.

Was also ist der Motor dieser Marginalisierung? Es ist ein System, das jeden verurteilt, der sich dem schmalen Pfad der ökonomischen Produktivität nicht anpassen will, oder kann. Ein Fehltritt, eine Pechsträhne oder ein räuberischer Abo-Vertrag können eine Abwärtsspirale in die Verschuldung auslösen. Das Geschäftsmodell von Inkassounternehmen basiert vollständig auf menschlichem Versagen und Unglück. Sie schaffen keinen Wert, sie profitieren davon, Menschen in Schuldenzyklen zu fangen, aus denen sie nie wieder entkommen. In einem solchen System werden diejenigen, die fallen, nicht aufgefangen, sondern monetarisiert.

Dabei sind praktische, würdevolle Lösungen oft verblüffend einfach. In einigen deutschen Städten gibt es Pfandringe, die an öffentlichen Mülleimern angebracht sind. Sie ermöglichen es den Menschen, ihre leeren Flaschen in einem separaten Behälter abzustellen, sodass Bedürftige sie einsammeln können, ohne im Müll wühlen zu müssen. Es ist eine kleine, aber tiefgreifende Innovation, die wenig kostet und ein gewisses Maß an Würde verleiht. Sie steht im starken Kontrast zu unseren komplexen Milliarden-Systemen, die letztlich genau bei den Menschen versagen, denen sie dienen sollten.

Am Ende müssen wir uns einer unbequemen Wahrheit stellen. Obdachlosigkeit in einer wohlhabenden Gesellschaft ist kein Bug, der behoben werden muss. Sie ist ein Feature. Sie ist das notwendige Nebenprodukt eines Systems, das unerbittliches Wachstum und Profit über menschliches Wohlergehen stellt. Die Menschen, die wir auf der Straße sehen, sind keine Anomalie, sie sind die Quittung für eine Transaktion, die wir alle täglich stillschweigend akzeptieren. Und solange wir nicht die Natur dieser Transaktion in Frage stellen, wird das Farmen weitergehen.

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